Die Scham

Eine aktuelle Abschiedsrede

Zu Anfang möchte ich euch ein Kapitel aus einem wunderschönen kleinen Buch vorlesen, das ich beim Stöbern hier wieder entdeckt habe: DER KLEINE PRINZ - einige aus meiner Gruppe kennen den Text bereits.
Vorweg: Der kleine Prinz stammt von einem sehr kleinen Asteroiden. Auf der Suche nach Freundschaft, Liebe, Vertrauen und Menschlichkeit führt ihn seine Reise zur Erde über sechs Planeten, wo er auf verschiedene seltsame Persönlichkeiten trifft. Diese ist eine davon:

Den nächsten Planeten bewohnte ein Säufer. Dieser Besuch war sehr kurz, aber er tauchte den kleinen Prinzen in tiefe Schwermut.
"Was machst du da?” fragte er den Säufer, den er stumm vor einer Reihe leerer und einer Reihe voller Flaschen sitzend antraf.
“Ich trinke.” antwortete der Säufer mit düsterer Miene.
“Warum trinkst du?” fragte ihn der kleine Prinz.
“Um zu vergessen.” antwortete der Säufer.
“Um was zu vergessen?” erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte.
“Um zu vergessen, dass ich mich schäme.” gestand der Säufer und senkte den Kopf.
“Weshalb schämst du dich?” fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen.
“Weil ich saufe!” endete der Säufer und verschloss sich endgültig in sein Schweigen.
Und der kleine Prinz verschwand bestürzt.
Die großen Leute sind entschieden sehr, sehr wunderlich, sagte er zu sich auf seiner Reise.

Die SCHAM. Jeder von uns kennt sie wohl und weiß, wie groß, umfassend und vielschichtig sie sein kann. Und jeder von uns weiß, wie eng Scham und Sucht miteinander verbunden sind. Es ist nicht nur die Stigmatisierung von außen durch unsere Gesellschaft, sie steckt natürlich auch in uns selbst, selbstgemacht.

Vor achteinhalb Jahren nach meinem ersten Hansenbarg-Aufenthalt dachte ich, ich hätte sie einigermaßen im Griff, genauso wie die Suchterkrankung. Mithilfe der Therapie konnte ich Hintergründe identifizieren, warum das Trinken begann. Familiäre Vorbelastungen, traumatische Erfahrungen, eine bis dahin unentdeckte psychische Erkrankung und dazu noch viel Stress und viel Druck. Ich war so stolz!

Leider habe ich es unterschätzt: Dieses Wissen allein hat nicht genügt, um abstinent zu bleiben.
Ich habe wohl an mir gearbeitet! Aber es hatte sich eben viel verändert. Ich habe nun mal nicht mehr alles geschafft wie früher, musste lernen, mit meiner psychischen Erkrankung zu leben, musste 70% Schwerbehinderung akzeptieren, es fehlte an Stressresistenz, Arbeitsversuche schlugen fehl.
Und ich habe immer noch zu viel verdrängt, in die beliebten Schubladen gepackt und zugemacht.

Irgendwann kam die fehlende Ernsthaftigkeit dazu, weiter in dem notwendigen Maße an mir zu arbeiten. Der Schlendrian zog ein.
Vor vier Jahren war die Sucht wieder stärker. Nur einmal musste ich DAS ALLES wegtrinken und mich belohnen. Obwohl ich es natürlich besser wusste. Dass der erste Schluck einer zu viel ist. Dass der Satz “Ich krieg’ das wieder in den Griff!” nicht greifen konnte. Obwohl ich meinen Seelenmenschen mittlerweile an den Alkohol verloren hatte. Obwohl ich eine Ausbildung zur Genesungsbegleiterin begonnen hatte, die mich richtig begeisterte.
Der Teufelskreis begann wieder, die Scham war wieder da, noch viel größer. Wieder hatte ich nicht nur mich enttäuscht, sondern auch mein Umfeld. Ich hatte es nicht geschafft, nicht mir zuliebe, nicht meinen Nächsten zuliebe. Ich hatte wieder mehr und mehr die Kontrolle verloren und schämte mich. Für meine fehlende Widerstandskraft, für meine Schwäche. Dafür, meine Ziele nicht erreicht zu haben. Dafür, gescheitert zu sein. Dafür, dass alles wieder in Schräglage geraten ist.

Schämen, Beschämtsein, Sich-Schuldig-Fühlen, Vergessen-Wollen: TRINKEN.

Sie ist jetzt immer noch da, die Scham. Und sie wird auch Teil meines Lebens bleiben. Ja, ich bin suchtkrank. Ja, viele Gründe dafür habe ich erkannt. Und ja, Abstinenz ist kein Zuckerschlecken.
Dank dem neuerlichen Aufenthalt im Hansenbarg kann ich aber damit leben. Die Therapie hat mir gezeigt, dass ich die Schubladen wieder aufmachen muss, die versteckten "bösen Träume” rausziehen und mich damit konfrontieren muss. Die gehen von alleine so mir nichts, dir nichts nun mal nicht weg! Dieser Weg wird kein einfacher, aber er wird mir helfen, und in gewisser Form freue ich mich darauf. Der Weg ist geebnet, Danke, Hansenbarg, Traumata, ich komme!

Ich habe wieder Pläne entwickelt, mir in meinem Rahmen Ziele gesteckt. Nachsorge gehört natürlich dazu. Regelmäßig eine Selbsthilfegruppe besuchen ebenso. Die Fortführung der EX-IN-Ausbildung zur Genesungsbegleiterin steht auch auf meinem Programm.

Eine wichtige Struktur verleiht mir glücklicherweise weiterhin DER BEGLEITER in Hamburg-Bergedorf. Eine ambulante Sozialpsychiatrie, an die ich seit fast acht Jahren angeschlossen bin. Dort nehme ich einmal pro Woche (oder bei Bedarf auch öfters) einen Gesprächstermin bei meiner “Bezugsbegleiterin” wahr. In regelmäßigen Abständen kommt sie zum Kaffee zu mir nach Hause. Oder lässt in Krisenzeiten auch mal am Wochenende das Handy an. Sie hat mich im Krankenhaus und auch hier besucht. Mit dem Rückfall und dem weiteren Trinken danach habe ich das Verhältnis zum BEGLEITER aufs Spiel gesetzt: In einer derartigen psycho-sozialen Einrichtung darf die Sucht nicht im Vordergrund stehen. Das tat sie aber immer mehr.

(Das Angebot des BEGLEITERS hat neben Walken, Minigolfen, Frühstück, Gesprächsgruppen noch viel mehr in petto, doch ich darf mir nicht zu viel vornehmen - was ich gerne tue, wenn es mir bestens geht. Dann schaffe ich ALLES!!! Und dann braucht es nur das Tüpfelchen auf dem I, der Berg wird zu groß und kracht in sich zusammen. Meine Frau S. ist auch da goldwert und passt auf, dass alles in “meinen” Grenzen bleibt. Sie kennt mich eben schon zu gut und tritt mir dann auf die Füße. Und sie hat mir hoffentlich verziehen, dass ich sie in meiner nassen Phase belogen habe.)

In diesem Zuge möchte ich dieser Einrichtung von ganzem Herzen DANKE sagen, die Hilfe und Unterstützung da draußen ist unbezahlbar!

Genauso herzlichen Dank sage ich dem Hansenbarg-Team! Ich habe mich auch beim zweiten Mal sehr wohl gefühlt. Ich bin eine der PatientInnen, die zu einem guten Teil schweren Herzens nach Hause geht. Alles ist geregelt und einfach, man kann wunderbar loslassen, sich in die Strukturen fallen lassen und sich auf sich selbst konzentrieren. Ich habe dankbar alle für mich ausgewählten Angebote wahrgenommen, sie haben mich in allen Bereichen weitergebracht. Ich konnte mich auch sonst prima beschäftigen. Ich habe nichts zu meckern. Außer dass sechzehn Wochen gefühlt zu kurz waren. Aber: Die Zeit ist reif!

 

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