"Wege entstehen dadurch, dass man sie geht" - Franz Kafka
Eine Abschiedsrede aus 2024
Eigentlich habe ich mir zu Anfang meines Aufenthaltes hier gesagt, dass ich zu meinem Abschied einfach nur auf Wiedersehen sagen werde. Ich bildete mir ein, mir werden ganz einfach die Worte fehlen und die Zeit hier würde mein Denken und Fühlen nicht beeinflussen oder verändern.
Ich kam im Januar hier im Hansenbarg an. Die Fahrt hierher verlief völlig wortlos. Es war dunkel, verschneit, neblig und kalt. Ja, fast schon unheimlich. Ich war völlig verunsichert und fragte mich die ganze Zeit, was soll ich eigentlich hier? Ich soll ein Alkoholiker sein? Einer von denen, bei dem die Eltern im Kindesalter schon beim Hinsehen mit den Worten: „Guck da nicht so hin, das sind Asoziale!" schimpften? Ich wollte einfach nur weg, die freundliche Aufnahme hier konnte daran nichts ändern.
Es vergingen so 2 bis 3 Wochen und ich lebte mich so langsam ein. Als ich eines Tages mal wieder im Wald spazieren war und mich von Musik beschallen ließ, zuckte ich plötzlich zusammen, Es war eine Liedzeile eines Songs meiner Lieblingsband. Eine Liedzeile, die ich zuvor schon hunderte Male gehört, doch nie wahrgenommen habe.
Wege entstehen dadurch, dass man sie geht. Dieses eigentliche Zitat von Franz Kafka machte mich nachdenklich und ich begann meinen Aufenthalt hier zu durchleuchten. Welchen Weg bin ich zu oft gegangen, um letztendlich hier zu landen? Ich ging in meinem Leben immer schnurstracks geradeaus, stets Vollgas. Beladen mit Depressionen, schrecklichen Erlebnissen, Trauer, Verlusten und Stress im Job. Es gab Kreuzungen auf diesem Weg, da standen Hilfsangebote und Menschen, die mich liebten und es - immer noch tun. Sie boten mir jederzeit ihre Ohren und Hilfe an, aber ich ließ sie links und rechts liegen, ich wollte die Abkürzung geradeaus, denn wenn ich geradeaus lief, wartete ein Glas Wein auf mich. Der Wein schmeckte vorzüglich, er ließ mich für den Abend den Stress und all den Kummer vergessen, er verschaffte mir ein wohliges Gefühl. Wozu also reden oder gar Hilfe in Anspruch nehmen, wenn das auch ein Glas Wein schafft?
Dieser Weg schien perfekt für mich, jahrelang. Ich lief also immer weiter geradeaus und verschwendete keinen Blick nach links oder rechts, denn hinter jeder Kreuzung wartete ein Glas Wein, mit dem ich mich dann im Bastelzimmer vergnügte. Aus einem Glas wurden dann irgendwann zwei. Auch okay, dachte ich. Aus den zweien wurden schließlich drei, und irgendwann war es eine ganze Flasche. Wenn ich alleine zuhause war, waren es manchmal auch zwei. Niemand ahnte etwas von der heimlichen Liebschaft mit meinem Wein, niemand, nicht einmal meine Frau. Die· Heimlichtuerei hat mich zu einem verdammt guten Schauspieler gemacht. Doch irgendwann klappte es mit dem Abschalten nicht mehr so schön wie anfangs. Im Gegenteil, die Depressionen waren wieder da, wurden immer stärker und unerträglicher. Ich veränderte mich, wurde ein Nervenbündel. Stets gereizt und fast schon cholerisch. Ich wurde traurig und kalt, war ungerecht anderen gegenüber und vernachlässigte meine Frau. Ich zog mich immer mehr zurück, hatte keine Freude an nichts und dem Leben mehr, Hobbys wurden zum Zwang. Letztendlich blieb ich sogar liegen, auch wenn ich eigentlich ins Büro gemusst hätte.
Da war er also mein Weg, -mein persönlicher Weg, der mich in den Hansenbarg führte.
Alleine wäre ich zu dieser Erkenntnis nie gekommen. es war die angenehme Ruhe hier, die viele Zeit, die man hier für sich und zum Nachdenken hat. Es waren die unzähligen Einzel- und Gruppentherapiesitzungen, die stundenlangen Abende in der Werkstatt des Ergo Gebäudes. Es waren die gemeinsamen Spieleabende, die offenen Gespräche mit vielen von euch. Eure persönlichen Wege, von denen ihr erzählt habt. An dieser Stelle ein großes Dankeschön an alle hier, und vor allem ein riesengroßes Danke an meine Gruppe 4 und meinen Bezugstherapeuten Herrn K., der es nicht immer leicht mit mir hatte. Danke.
Am 30. April sind 16 Wochen für mich rum. 16 Wochen, die mir gezeigt haben, dass Alkoholiker keine asozialen Menschen sind, wie meine Eltern es immer behauptet haben. Im Gegenteil, ich habe hier nur tolle Menschen kennengelernt, die dieses Stigma nicht verdient haben, 16 Wochen, die mir geholfen haben zu akzeptieren, dass ich ein Alkoholiker bin, und keine Charakterschwäche ist. 16 Wochen, in denen mir mit nüchternem Kopf bewusst wurde, dass ich doch noch Lust und Freude im Leben habe. 16 Wochen, in denen ich mein echtes·, wahres Lachen zurückbekommen habe. Dank ihm lache ich wieder von selbst und nicht auf Knopfdruck, um eine Fassade aufrechtzuerhalten. Aber auch 16 Wochen, in denen es schmerzliche und weitreiche Veränderungen im privaten Leben gab. Ich werde sehr lange an diese Zeit zurückdenken und hoffentlich nie vergessen, wie anstrengend diese Zeit auch für alle Beteiligten war.
Mir wurde klar, dass es an der Zeit ist, einen neuen, anderen Weg zu beschreiten. Einen Weg, der neu sein wird, aber nicht bei Kilometer null beginnt. Er begann bereits hier im Hansenbarg, von hier aus wurde die Richtung des neuen Weges in mühsamer Arbeit bereits vorgegeben, und Begrenzungen wurden abgesteckt. Es wird nicht leicht werden, diesem neuen und holprigen Weg zu folgen und nicht wieder abzukürzen. Auch werde ich auf diesem Weg früher oder später meinen bisherigen Weg kreuzen, die größte Herausforderung wird dann daraus bestehen, nicht aus Bequemlichkeit oder Leichtsinn darauf abzubiegen.
Bevor ich jetzt jemanden vergesse, bedanke ich mich beim kompletten Hansenbarg Team, bei jedem Einzelnen. Schön, dass es euch gibt und macht weiter so. Danke an unser Suchthilfesystem, ohne diesem würde es den Hansenbarg so in seiner Form nicht geben.
Zu guter Letzt noch einmal ein Dankeschön an euch. Nutzt diese Zeit hier und findet euren Weg, lasst euch helfen und unterstützen auf diesem zu bleiben.