Zu Besuch bei der Carstens-Stiftung: Mein Leben in 40 Jahren?

26 Jahre alt, mitten im Masterstudium, viel auf Reisen oder unterwegs mit Freund*innen, noch am Anfang meiner Hamburg-Zeit, die Stadt am Entdecken – das bin ich, jetzt gerade, im Jahr 2024. Heute bekomme ich vor Augen geführt, wie mein Leben in 40 Jahren aussehen könnte. Nein, das ist keine Science-Fiction Geschichte, sondern ein kleines Gedankenspiel, bei dem ich euch mit in meine potenzielle Zukunft nehme.

Ich bin zu Besuch bei der Seniorenwohnanlage der Wilhelm Carstens Gedächtnis-Stiftung, einer Wohnanlage mit Mietwohnungen für ältere Menschen. Und hier an Ort und Stelle, in der Rotenhäuser Straße, direkt am Ernst-August-Kanal in Wilhelmsburg, steige ich in eine Zeitreisemaschine und katapultiere mich in das Jahr 2064. Jetzt bin ich 66 Jahre alt und quasi schon eine alteingesessene Hamburgerin, die allmählich genug von dem ganzen Trubel rund um ihre Wohnung mitten auf St. Pauli hat. Steigende Mietpreise, grölende Jugendliche in der Nacht und dann auch noch jedes Mal in den dritten Stock hoch zur Wohnung, ohne Fahrstuhl – das geht so nicht mehr, beschließe ich und mache einen Termin mit Frau Prosser aus. Sie ist die Einrichtungsleiterin der Seniorenwohnanlage der Stiftung in Wilhelmsburg. Frau Prosser empfängt mich sehr herzlich mit einem leckeren Kaffee, bevor sie mich durch die Anlage führt.

Dass das Wohnen hier weitgehend selbstständig stattfindet, bemerke ich schnell. Die fünf Wohnhauskomplexe sind nachbarschaftlich angeordnet, die Wohnanlage ist weitläufig, die Atmosphäre ungezwungen. Ganz dem Prinzip der Anlage entsprechend: eigenständiges Wohnen mit Unterstützung bei Bedarf. „Betreutes Wohnen“, nennt die Einrichtungsleiterin es auch, „Service-Wohnen“ heißt es offiziell. Es gibt einen sozialen Dienst vor Ort, der praktische Hilfestellungen gibt, Mieter*innen berät und gesellige Veranstaltungen organisiert. Bei Pflegebedarf helfen die Mitarbeiter*innen den Mieter*innen, einen ambulanten Pflegedienst zu finden. Diese Kombination aus Selbstständigkeit und Hilfestellung gefällt mir sehr gut. Außerdem ist die Wohnanlage weitgehend barrierefrei. In jedem Haus gibt es einen Fahrstuhl und Türöffner, genau das, was mir in Pauli fehlt. Was mir auch auf Anhieb auffällt: Es ist sehr ruhig hier. Keine Menschenmengen, kein lauter Bass, keine Fußballfans (zumindest keine, die herumbrüllen). Alles, was ich höre, ist das Plätschern der Regentropfen auf den Bäumen und in der Ferne sehe ich ein Eichhörnchen den Baum hochklettern.

Ein positiver erster Eindruck. Aber nun stellt sich mir die Frage: Würde es hier auch meiner Zwillingsschwester gefallen? Denn ohne sie möchte ich nicht umziehen. Wir haben zu lange weit entfernt voneinander entfernt gewohnt. Deshalb haben wir irgendwann beschlossen, unsere letzten 20, 30, sind wir mal optimistisch und sagen 40 Jahre, zusammenzuwohnen. Da gäbe es hier in der Wohnanlage verschiedene Möglichkeiten. Wir könnten zum Beispiel zusammen in eine Zwei-Zimmer-Wohnung, also eine „Paar-Wohnung“ ziehen. Da würden wir uns dann eine Wohnfläche von 56 Quadratmetern teilen. Da ich mich aber auch auf meine etwas älteren Tage nicht von meinen zahlreichen Lieblings-Vintage-Modeschätzen trennen kann und meine Schwester als leidenschaftliche Hobby-Köchin und -Konditorin vermutlich so einige Küchenutensilien mitbringen würde, wäre es mir doch am liebsten, wir würden jeweils in eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung mit Balkon einziehen. Die wäre dann ca. 40 Quadratmeter groß. Natürlich würden wir dann aber direkt nebeneinander wohnen wollen, sodass wir jeden Morgen unseren Kaffee zusammen trinken und von einem Balkon zum nächsten über den neusten Hausklatsch und Tratsch schnacken könnten.

Bevor ich aber zu sehr in meinen Zukunftsträumen versinke, stellt sich mir eine ganz wichtige Frage: Wie viel kostet denn so eine Wohnung?

Zwischen 266 und 415 Euro Nettokaltmiete im Monat kostet eine Eineinhalbzimmerwohnung. Dazu kommen ein Betreuungszuschlag von 59 Euro, Wasser- und Heizungskosten und eine Betriebskostenpauschale. Das ist dann insgesamt auf jeden Fall günstiger, als die Miete meiner kleinen Pauli-Wohnung.

Von der Balkon-Wohnung zur Flohstube – Frau Prosser kennt mich zwar noch nicht lange, scheint aber schon jetzt genau zu wissen, womit sie mich überzeugen kann. Sie führt mich durch ein Häuschen, in dem es wie bei einem Flohmarkt oder in einem Gebrauchtwarenladen aussieht. Von Kleidung und Taschen, über Töpfe und Geschirr bis hin zu Möbeln, Büchern, Deko, Puppen und elektronischen Geräten ist eigentlich für jede*n Bewohner*in etwas mit dabei. Alle Dinge sind Spenden. Dieser Ort würde sicher auch meinem Zwilling gefallen. Als Requisiteurin und Szenenbildnerin hat sie eine Leidenschaft für Einrichtung und Kunst. Vermutlich würde sie hier ein paar Gegenständen einen neuen Look verschaffen.  

Die Tour über das Gelände geht weiter. Die Häuser sind draußen durch überdachte Pflasterwege miteinander verbunden. Wir gelangen zum Kiosk, der mit süßen und salzigen Snacks, Marmelade, Zeitschriften und Getränken ausgestattet ist. Durch die Glastür sieht man von hier aus schon den Gemeinschaftssaal. Hier finden immer wieder Veranstaltungen, wie Konzerte, Kino oder Bingo statt und es wird auch täglich ein Mittagstisch angeboten, erzählt mir Frau Prosser. Was mir hier sofort ins Auge fällt: die Tür, mit dem Schild zur Bibliothek. Meine Schwester ist eine absolute Leseratte, also ist dieser Raum hier ein Muss.

Einmal um das Gebäude herum gelangen wir zum Ernst-August-Kanal. Hier haben ein paar fleißige Mieter*innen kleine Gärten angelegt: Ein Efeu-Ring als Eingangstor, kleine verzierte Vogelhäuser aus Holz und eine weiße ländliche Straßenlaterne laden zum Entspannen ein. Wie wäre es denn mit einem großen Gemüse- und Kräutergarten für die Wohnanlage? Solchen Wünschen und Visionen steht die Einrichtungsleiterin sehr offen gegenüber, denn ihr sind ein persönliches Engagement und enges Miteinander besonders wichtig.

So führt Frau Prosser im Anschluss an die Führung ein sogenanntes Vorgespräch mit mir. Hier will sie mich kennenlernen, von meinen Interessen, Bedürfnissen und Wünschen erfahren, um zu schauen, ob ich (und meine Schwester) Teil der Wohnanlage in der Rotenhäuser Straße werden können. Ich merke schnell, dass Frau Prosser meine Ideen für gemeinschaftliche Aktivitäten, wie Musik machen, basteln oder Yoga, wertschätzt und mir den Freiraum geben möchte, diese auch in die Tat umzusetzen. Meine Schwester und ich könnten uns also in jedem Falle kreativ ausleben. Langweilig würde uns hier sicher nicht werden, denn die Seniorenwohnanlage Wilhelm Carstens Gedächtnis-Stiftung hat einen einzigartigen Charakter, den die Menschen der Wohnanlage bestimmen. Hier leben besonders starke Persönlichkeiten, so die Einrichtungsleiterin. Der Umgangston sei sehr direkt: „Es wird kein Blatt vor den Mund genommen!“. Mit diesem Statement enden mein Besuch und meine kleine Zeitreise. Und auch wenn es hier in 40 Jahren vielleicht ganz anders aussehen mag – ich bin mir sicher, dass das nicht mein letzter Besuch war. Wir sehen uns bald, liebe Flohstube.

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