Der Spiegel der Wahrheit: eine Abschiedsrede aus dem Frühjahr 2022
Sie war nun 57 Jahre alt, waren ihre Gedanken, als sie sich im Spiegel betrachtete. Vor vielen Jahren hatte ihre Großmutter zu ihr gesagt das dieser Spiegel etwas Besonderes sei. Etwas Besonderes, überlegte sie, während sie sich betrachtete. Johanna sah fasziniert auf die immer dunkler werdende Spiegelung. Der Spiegel war nun schwarz. Einen Moment später tauchte in der Mitte ein sonnenheller Lichtpunkt auf er wurde größer und größer, bis der ganze Spiegel hell wie die Sonne war.
Als sich Johannas Augen an die warme Helligkeit gewöhnt hatten, erkannte sie ein kleines Mädchen das in einem wundervollen Garten spielte. Der Vater hatte ihr ein kleines Haus gebaut in dem sie gerne mit ihren Puppen spielte. Das kleine Mädchen hatte viel Fantasie und beschäftigte sich sehr gerne alleine. Ihre Eltern waren sehr streng, aber auch sehr liebevoll.
Mit ihrem Vater hat sie jedes Jahr auf ihrem Geburtstag einen Ausflug gemacht auf dem sie ihrem Papa alles sagen konnte, das war das größte Geschenk.
Der Spiegel verdunkelt sich wieder und als er wieder hell genug war, erkannte Johanna das kleine Mädchen kaum wieder, es war ein Teenager geworden, ca. 15 Jahre alt. Es saß in der Schule neben ihrer besten Freundin. Die Freundinnen verbrachten viel Zeit miteinander, sie machten die Hausaufgaben zusammen, redeten viel miteinander , trösteten wenn es nötig war und vertrauten sich alle Geheimnisse an. Johanna sah das beide gemeinsam ihren Schulabschluss erhielten und gemeinsam eine Ausbildung machten. Das Schöne daran war, das beide den gleichen Beruf erlernten, somit auch wieder viel Zeit für einander hatten. Sie hatten viel Spaß zusammen.
Das Spiegelbild wurde nun milchig grau, alles ist nur noch grau und verschwommen zu erkennen. Johanna sah angestrengt auf den Spiegel und erkannte langsam das Bild, welches sie sehr traurig machte.
Das Mädchen stand an dem Grab ihrer besten Freundin und konnte es nicht verstehen das sie nun nie wieder wird mit dieser lachen, weinen, Spaß haben, lernen und Geheimnisse haben können. Niemand hatte tröstende Worte für sie, alle hatten zu viel mit sich zu tun, also trauerte das Mädchen für sich alleine. Es dauerte sehr lange bis das Mädchen wieder Beste Freunde hatte.
Noch immer war es alles verschwommen was Johanna sehen konnte.
Das Mädchen versuchte neue Freunde zu finden und hatte Glück gleich drei zu bekommen.(Florian, Anna und Martin).
Das Bild wurde wieder deutlicher Johanna sah, das das Mädchen einen Freund hatte. Das Mädchen lachte nicht viel und sah immer ängstlich aus. Johanna spürte eine Traurigkeit und Angst die von dem Mädchen ausging die kaum zu ertragen war. Einer ihrer Freunde, Florian, bemerkte es und sie erzählte das der Partner von ihr sie schlägt und erniedrigt. Florian half ihr, sich von dem Mann zu trennen. Aber das Gefühl von Angst, Erniedrigung und Schmerzen wird sie nie vergesse.
Nun war der Spiegel längere Zeit schwarz. Als er wieder hell wurde war es die Zeit in der die junge Frau einen Mann kennengelernt hat, der nicht schlägt und arbeiten ging, es schien ihr logisch diesen Mann zu heiraten. Sie bekamen zwei Kinder. In den Jahren, die beide miteinander verbracht haben, wurde die junge Frau nie geschlagen, aber sie lernte das auch Worte Gewalt sein können. Ihr wurde es verboten, mehr als ein Buch in der Wohnung zu haben, Nägel in die Wände zu schlagen, alleine weg zu gehen. Als ihre Kinder 2 Jahre und 5 Jahre alt waren trennte sie sich von dem Vater ihrer Kinder. Es begann ein stiller Kampf um ihre Kinder und ihr letzter Rest an Selbstachtung.
Der Spiegel verdunkelte sich erneut, und Johanna stand bewegungslos da. Es schien als würde der Spiegel Zeit benötigen und abwägen ob Johanna es ertragen könnte noch mehr von dem kleinen Mädchen, die zur Frau geworden war, zu sehen.
Sehr langsam wurde der Spiegel wieder etwas heller und Johanna konnte langsam ein Bild erkennen.
Die junge Frau und ihre Kinder lachten und waren glücklich. Es gab einen Mann, der liebevoll und voller Verständnis für die drei war.
Sie konnten gemeinsam lachen und Spaß haben, etwas, das alle drei lange nicht mehr hatten. Dieser Mann tat alles für die kleine Familie, er liebte alle und sie liebten ihn.
Bald beschlossen sie zusammen zu ziehen, gesagt getan , sie zogen in das Mehrfamilienhaus ihrer Eltern. Einen Tag nach dem Einzug musste der liebende Mann, von der Bundeswehr befohlen, nach Kroatien. Drei lange Monate, in denen die Kinder fragten wo er sei, wann er wieder kommen würde. Und sie sich fragte ist er gesund? Sie sah in den Nachrichten die Berichte und niemanden der ihr Auskunft geben konnte wie es ihm geht, sie hätte kein Recht dazu, da die beiden nicht verheiratet wären. Um in den Schlaf zu kommen trank sie regelmäßig am Abend Wein und hatte einen traumlosen Schlaf.
Er kam unversehrt wieder, aber Johanna sah der Frau an, das die Angst ihn zu verlieren , immer noch sehr groß war.
Johanna blickte in die Ecken des Spiegels, von dort wurde der Spiegel langsam undurchsichtiger, als würden Eisblumen dort erscheinen. Als die Fläche über und über mit den Blumen bedeckt war, hauchte Johanna die Oberfläche an und sah zu wie sich wieder ein Bild im Spiegel zeigte.
Als erstes erkannte Johanna das die Familie glücklich zusammen lebte, aber es schien ein Schatten über alle zu schweben. Johanna sah genauer hin, erkannte nun auch warum. Die Oma der Kinder war krank, die Ärzte nannten es aggressive Demenz und der Opa erkrankte schwer an Krebs. Johanna sah wie sehr sich die Frau bemühte alles zu schaffen, Familie, Arbeit, Pflege der Eltern. Es funktionierte so lange sie abends ihren Wein trank, später dann öfter am Tag. Ihr Vater kam ins Krankenhaus und verstarb, vorher musste sie noch ein Versprechen einlösen das sie ihm gab, keine Lebens verlängernden Maßnahmen hieß es, er litt sehr und sie auch.
Und wieder stand sie an einem Grab und spürte unendliche Traurigkeit.
Ihre Mutter konnte mit ihrer Demenz nicht mehr in der Wohnung bleiben, auch wenn ihre Tochter über ihr wohnte, diese musste auch arbeiten und konnte nicht ununterbrochen bei ihr sein. Die Tochter brachte ihre Mutter in einem Seniorenheim unter. Dort verstarb sie als sie für sich Musik hörte und dabei tanzte, es war einen Tag vor der Goldenen Hochzeit.
Sie stand an dem Grab ihrer Eltern und das einzige was sie etwas getröstet hat war das beide wieder zusammen waren, und vermeindlich der immer mehr werdende Alkohol.
Johanna betrachtet sie genau und bemerkt wieder diese tiefe Traurigkeit und Machtlosigkeit in den Augen der Frau. Diese Frau erinnerte sie an jemanden.
Das Bild verschwand und damit auch das Gefühl sich zu erinnern.
Nun sah Johanna, dass die Frau wieder an einem Grab stand, der beste Freund seit über 20 Jahren verstarb unerwartet an einem Herzinfarkt. Das einzige was ihr half weiter zu funktionieren. war der Harte Alkohol.
Sie trank heimlich aber konstant über den Tag, wenn sie versuchte nicht zu trinken war sie unfähig zu funktionieren.
Nach dem Tod der Eltern hatte sie Halt bei ihrer Schwiegermutter, einer sehr belesenen und liebevolle Frau. Sie kümmerte sich auch um die Schwiegereltern. Eines Tages kam die Schwiegermutter mit einem Herzanfall ins Krankenhaus und verstarb kurze Zeit darauf.
Und wieder stand die nun reife Frau an einem Grab, sie konnte nicht mehr weinen nur noch trinken.
Über den Spiegel legt sich ein dunkler Schleier, schemenhaft kann Johanna die Frau sehen wie diese immer mehr in sich kehrt und immer mehr trinkt, es scheint keinen Ausweg für sie zu geben.
Als sie ihren Arbeitsplatz wegen ihres Alkoholkonsum verliert, geht sie ins Krankenhaus für eine Entgiftung damit sie lernt ohne Alkohol zu leben.Johanna erkennt genau das es ein Versuch von ihr ist zu überleben nicht zu leben. Es scheint eine Weile gut zu gehen, bis bei der Frau eine Krankheit festgestellt wird. Sie wird erfolgreich operiert und es scheint wieder alles gut zu sein. Johanna sieht sie genau an und erkennt wieder diese Hoffnungslosigkeit und Trauer bei ihr.
Es dauert nicht lange da fängt die Frau wieder an heimlich zu trinken.
Scheinbar ist das die Lösung für sie, aber nur scheinbar . Der Mann liebt seine Frau unendlich und gesteht ihr, das er Angst hat um sie.
Während Johanna weiter die Bilder betracht, die der Spiegel ihr zeigt, beginnen bei ihr die Tränen in feinen Linien über die Wangen zu laufen.
Sie sieht wie die Frau versucht, jetzt alles richtig zu machen, sie sucht sich Hilfe, und es scheint alles wieder gut zu werden. Nur wird nicht immer alles gut das weiß Johanna so gut wie die Frau die sie beobachtet.
Es ist Abend und die Frau die seit einigen Monaten keinen Alkohol getrunken hatte, erfährt, dass wieder ein sehr guter Freund verstorben ist.
Dieses Mal sieht Johanna sie nicht an einem Grab sondern alleine und erstarrt auf einem Sofa sitzen. Man kann ihr ansehen das sie gerade jetzt gerne etwas getrunken hätte, aber sie trinkt nicht.
Die Frau steht auf und geht zu einem Spiegel. Vor vielen Jahren hatte ihre Großmutter zu ihr gesagt das dieser Spiegel etwas Besonderes sei.